Wir sind Zeitzeugen des Brexitvotums gewesen, was ist seit dem geschehen? Und: Wieso die EU eigentlich stärker auftreten könnte!
Der 23. Juni 2016 war ein Donnerstag und ich befand mich an jenem Tag in Australien, als das Referendum eine Zäsur für die Geschichte der EU und des Vereinigten Königreichs (UK) bedeutete. „I am so angry, that is just soo soo stupid!“ war der Kommentar meiner Teamleiterin (sie stammt aus der Nähe von Liverpool). Die Reaktionen waren vielseitig: von der Patriotischen Landeswährung, die sich in die Kreidefelsen von Dover verwandelt (Tweets wie dieser) über die Sorgen von Briten die inzwischen auf dem Festland leben und arbeiten bis hin zu einer Petition (#londependence auf Twitter) die immerhin von über 160.000 Menschen unterzeichnet wurde, über einen unabhängigen Stadtstaat London, da London nicht nur durch den starken Finanzsektor und dem „Finanz-EU-Pass“ (dazu nachher mehr) sehr von dem europäischen Binnenmarkt profitiert, es sind auch EU Institutionen wie die EU-Bankenaufsicht (EBA), der Euro-Handel (auch das Clearing wird in London durchgeführt) und die EU-Arzneimittelaufsicht (EMA) hier angesiedelt.
Und nun? Es sind nun mehr anderthalb Jahre vergangen. Der Britische Pfund ist nach Schwankungen und einigen Talfahrten im Bezug auf den Euro in etwa auf einem Kurs wie Anfang Juli 2016. Auf ein Niveau wie vor dem Votum kam er bisher nicht mehr wieder. Die Inflationsrate ist bei über 3% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Vor dem Referendum war sie bei 0,5%.
Nunja. Der Austritt ist erklärt, der Stichtag wird der 29. März 2019 sein. An diesem Tag wird entsprechend des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) der Austritt vollzogen. Bis dahin müssen zwei Verträge ausgehandelt werden: 1. Der Vertrag über den Austritt und seine Wirkungen (Withdrawal agreement) und 2. der Vertrag über das zukünftige Verhältnis des UK und der EU27. Hierbei sind die Verhandlungen seit nun mehr als einem Jahr im Gange und sie stocken immer weiter. Zum Einen möchte die EU27 dem UK nicht erlauben, sich auszusuchen, welche der großen EU-Freiheiten sie behalten möchten (Freier Waren- und Kapitalverkehr) und welche sie nicht haben möchten (Freier Personen- und Dienstleistungsverkehr). Dieses „cherry-picking“ wurde von mehreren Stimmen aus der EU ausgeschlossen.
So wurden in der Zwischenzeit dennoch einige Sachen geklärt, aber es bleiben drei Knackpunkte, die noch geklärt werden müssen:
– Die Abrechnung: Wie ist mit den von UK zugesicherten Zahlungen an die EU und vice versa umzugehen? Wie genau sind die Zahlen zu beziffern? Aus mehreren Quellen ergeben sich Schätzungen, dass UK 100.000.000.000,- € (ich habe die Zahl mal ausgeschrieben, damit man sie mal sieht!) an die EU zahlen muss und Forderungen in Höhe von 40 Mrd. € hat. Saldiert wird die Sache UK wohl 60 Mrd. € kosten, das wird teuer!
– Die Statusrechte der 3,5 Mio EU27-Bürger, die im UK leben und der 1,2 Mio Briten, die auf dem Kontinent leben. Es ist nämlich für alle Seiten unbillig, wenn sie wie „Drittstaatler“ behandelt würden oder sogar ausreisen müssten.
– Die Irlandfrage. Die Insel Irland ist getrennt in die Republik Irland und Nordirland, welches zum UK gehört. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass das eine Frage von Krieg und Frieden ist. Nein, es geht nicht um Game of Thrones! Sondern um beispielsweise die IRA (Irish Republican Army), die als paramilitärische Kraft im Nordirlandkonflikt an den gewaltsamen Eskalationen teilhatte. Das Karfreitagsabkommen, welches Dieses Jahr 20 Jahre bestand hat, sorgte für Frieden, dieser wurde jedoch durch die Freizügigkeit der EU gestärkt. Denn durch sie gibt es keine geschlossene Grenze zwischen Irland und Nordirland. Nunmehr wird diese Grenze jedoch eine EU-Außengrenze! Das würde Kontrollen des Güter- und Personenverkehrts innerhalb der „grünen Insel“ bedeuten und könnte zu neuen Konflikten führen, da viele Menschen die „Grenze“ auf dem täglichen Weg zur Arbeit überqueren. Würden jedoch keine Kontrollen durchgeführt werden, könnten über Nordirland unkontrollierte Waren in die EU gelangen. Man könnte die EU-Grenzkontrollen um Nordirland herum anlegen, aber dann wäre der innerstaatliche Verkehr zwischen dem UK gestört; Oder wir vereinigen die beiden Irlands einfach (Zusammen, was zusammen gehört? *hust*)? Wäre das einfach? Naja, das ist vermutlich die kniffligste Frage.
Ja und jetzt drückt die EU27 auf die Tube: Sie wollen das Withdrawal Agreement bis Oktober diesen Jahres in trockenen Tüchern wissen, damit es bis zum Stichtag (der 29.3.19 s.o.) ratifiziert werden kann. Ich vermute, dass sie sich in der Zeit dann auch gestärkt dem zweiten Vertrag widmen werden. Kann die EU es sich leisten, jetzt Druck auszuüben? JA! Es ist schwer zu glauben, aber die EU sitzt doch am längeren Hebel! Denn folgendes passiert, wenn die Verträge nicht rechtzeitig geschlossen werden: Der Austritt wird vollzogen und das UK wird ein ganz normaler Drittstaat. Wie Argentinien oder Ghana! Das heißt, der Handelsverkehr wird unter Zollschranken gestellt, Menschen brauchen ein Visum, um einzureisen und so weiter! Der wirtschaftliche Schaden wäre immens. Für beide Seiten, aber mehr für das UK, da die EU eine deutlich stärkere Marktposition hat. Aber auch Unternehmen werden Probleme bekommen: Begründet in der Geschichte des englischen Commonwealth werden in England Gesellschaften als solche des Rechts des Landes angesehen, in dem sie Gegründet wurden (Wikipedia Gründungstheorie). Bei uns in Deutschland – aber auch Österreich und anderen Staaten – wird die Gesellschaft als aus dem Land angesehen, in dem es seine Geschäftsleitung hat (Geschäftsleitungstheorie). Momentan müssen Firmen mit Hauptsitz in Deutschland, die aus steuerlichen Gründen die englische Rechtsform Limited (ltd) gewählt haben, wegen des Antidiskriminierungssitz als solche englischen Rechts anerkannt werden. Ist UK nicht mehr EU-Mitglied, dann ist die Gesellschaft keine Limited mehr vor dem Deutschen Gesetz und dann ist booom, die Haftungsbeschränkung weg! Eine GmbH hat in England keine Probleme, weil die ja das andere System haben… Aus diesen und anderen Gründen hat die EU eigentlich eine äußerst starke Verhandlungsposition. Der Umzug der EMA und EBA ist inzwischen auch schon eingeleitet. Es geht nach Amsterdam (wie passend für die Arzneimittelindustrie) und Paris.
Tja… Also es wird teuer für Theresa May: Endweder die Abrechnung von 60 Mrd € oder UK wird ein Drittstaat… Oder kommt es am Ende doch nicht dazu und das war der Größte Zirkus der Geschichte und gleichzeitig die größte wehe-jemand-verlässt-die-EU-Drohung ever? Denn EU- Ratspräsident Donald Tusk meinte jüngst, die Tür zur EU sei noch nicht ins Schloss gefallen, falls sich die Briten umentschieden. Mal schauen, was noch kommt!